Kaum ein Thema wird derartig kontrovers diskutiert wie das Dehnen. Die einen verkaufen es als Verletzungsprophylaxe, die anderen als verletzungsfördernd. Manche sehen darin eine Notwendigkeit, andere eine Zeitverschwendung. Im folgenden Artikel möchte ich insbesondere die Thematik Dehnung in Bezug auf den Turnsport behandeln.
Dehnbarkeit
Was ist Dehnbarkeit überhaupt? Dehnbarkeit oder Beweglichkeit bezeichnet die Fähigkeit, eine Bewegung mit möglichst großer Amplitude (Reichweite) auszuführen. Die Dehnbarkeit eines Menschen bewegt sich zumeist zwischen den zwei Extrempolen von Hypomobilität (stark verminderte Beweglichkeit) und Hypermobilität (stark erhöhte Beweglichkeit).
Grundsätzlich verfügen Menschen über eine angeborene Dehnfähigkeit, welche zumeist bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern. Diese ist durch Training bis zu einem gewissen Grad verbesserbar, kann aber genauso gut durch Vernachlässigung stark abnehmen. Das beste Alter zum Dehnungstraining liegt zwischen 11 und 14 Jahren.
Abgesehen davon hängt die Dehnfähigkeit auch von weiteren Faktoren wie Schmerzresistenz, Temperatur, Uhrzeit uvm. ab.
Warum dehnen?
Eins vorweg: Nachdem in Bezug auf Dehnen die wildesten Theorien von Verletzungsprophylaxe, über Muskelkatervermeidung und Leistungssteigerung kursieren – keine dieser Theorien ist ausreichend wissenschaftlich erwiesen!
Für den Hobbysportler mag also dehnen, ausgenommen seiner subjektiv besseren Empfindung danach, überhaupt keinen Sinn machen.
Für den Turnbereich ist das Dehnen jedoch unabdingbar. Fakt ist: Durch regelmäßiges Dehnen kann man die Bewegungsreichweite (Amplitude) seiner Gelenke verbessern. Nachdem für einige Übungen des Turnsports wie Spagat, Brücke, Bogengang uvm. eine überdurchschnittliche Beweglichkeit Grundvoraussetzung ist, muss im Turnsport gedehnt werden.
Abgesehen davon macht Dehnung im Zusammenspiel mit Krafttraining Sinn; insbesondere wenn dieses von einem Laien ausgeführt wird. Muskeltraining erhöht den Grundtonus des eingesetzten Muskels. Werden die Gegenspieler nicht im selben Maße angesprochen, führt dies langfristig dazu, dass die Bewegungsreichweite des trainierten Muskels abnimmt. Umgangssprachlich wird hier von Muskelverkürzung gesprochen. Tatsächlich ist der Gegenspieler nicht mehr in der Lage, die Kraft aufzubringen, den Muskel gegen dessen Tonus zu strecken. Dem kann man mit gezieltem Dehnen entgegenwirken.
Aktive & passive Dehnung
Eine viel zu oft vernachlässigte Thematik ist die aktive & passive Dehnungsfähigkeit. Zumeist wird auf Gedeih und Verderb die passive Dehnung trainiert, indem der Trainer den Turner bspw. in die Dehnung drückt. (Bspw. das Zu-Boden-Drücken im Grätschsitz) Alternativ nutzen Turner die Schwerkraft, um ihre Muskeln maximal zu dehnen. (Bspw. Spagat)
Dies führt dazu, dass die betreffenden Muskeln weicher werden und einem Dehnungsreiz eher nachgeben. Die Gefahr liegt darin, dass durch unsachgemäße Belastung hiernach, der Knochenapparat zu Schaden kommen kann.
Das häufigste Beispiel besteht im Bereich des Rückens: Hier wird in der Brückenposition mit allerlei Krafteinsatz und Schmerzüberwindung insbesondere die Dehnung im Lendenbereich erhöht, um bspw. einen Bogengang zu ermöglichen. Nun turnt der Turner diese Übung. Die weich gewordenen Muskeln geben nach, doch es fehlt an Kraft, die Übung tatsächlich mit Körperspannung zu halten, weswegen langfristig die Wirbelsäule zu Schaden kommen kann.
Daher gilt es, neben der passiven Dehnung stets auch aktive Dehnung bzw. Krafttraining der gedehnten Muskeln miteinzubeziehen. Aktive Dehnung bedeutet, dass ein Muskel durch Krafteinsatz des Gegenspielers in die Dehnung gezogen wird.
Aktive Dehnung ist auch Voraussetzung für einige Übungen, die eine Bewegungsamplitude entgegen der Schwerkraft verlangen. (Bspw. Spagatsprung)
Wie dehnen?
In der Praxis beobachte ich zumeist die zwei einfachsten Methoden des Dehnens: statisches und dynamisches Dehnen. Beide bedürfen wenig Einschulung der Turnenden und werden somit wohl vor allem der Zeitersparnis wegen eingesetzt.
Passiv statisches Dehnen
Der Muskel wird durch Einwirkung der Schwerkraft, Druck/Zug des Turnenden/des Trainers in die maximal tolerierbare Dehnungsposition gebracht und mindestens 10 – 20 Sekunden gehalten.
Dynamisches Dehnen
Durch Wippen bzw. rhythmische Bewegungen wird der Muskel immer wieder bis zum Dehnungspunkt oder darüber hinaus gebracht.
Anspannungs-Entspannungs-Dehnen
Der Muskel wird (meist durch einen Partner) in die Dehnstellung gebracht. Hiernach wird er vom Turner angespannt; er drückt den Partner gewissermaßen weg, und wieder entspannt. Dadurch gibt der zu dehnende Muskel kurzfristig nach und kann tiefer in die Dehnposition gebracht werden. Dieser Vorgang wird mehrfach wiederholt.
Häufig wird diese Methode ergänzt, indem am Ende der Muskel noch einmal aktiv durch seinen Gegenspieler in der Dehnung gehalten wird.
Aktiv statisches Dehnen
Hierbei wird der Muskel einzig durch seinen Gegenspieler in die Dehnung hineingezogen.
Variantenreiches Dehnen
Wie man sieht, gibt es eine Vielzahl von Dehnmethoden, die allein oder mit Partnerhilfe ausgeführt werden können. Erfahrungsgemäß bedeutet das regelmäßige Dehnen für einige Turnende eine mitunter langweilige Prozedur. Ich persönlich benutze darum möglichst viele Varianten des Dehnens, um die Turnenden motiviert zu halten.
Wichtig ist auf jeden Fall, niemals zu dehnen ohne ein begleitendes Krafttraining. Das reine Weichmachen von Kindern & Jugendlichen ist mancherorts leider gängige Norm und ich habe schon einige mittlerweile Erwachsene kennengelernt, die von dieser Methode einen Bandscheibenvorfall und dergleichen davongetragen haben.
Für einen maximalen langfristigen Dehnungseffekt sollte täglich gedehnt werden. Da turnerische Beweglichkeit höchst selten Teil unserer Alltagsbewegung ist, tendiert der Körper, diese schnell wieder rückzubilden. Gerade über die trainingsfreien Ferien kommt es daher häufig zu einem immanenten Rückgang der Dehnfähigkeit.
Mit zunehmendem Alter verschlechtert sich die Dehnungsfähigkeit weiter, weswegen ein kontinuierliches Dehnen notwendig ist, um langfristig beweglichkeitsfordernde Turnübungen ausführen zu können.